Ein Jahr nach den israelischen Angriffen auf Gaza erinnern wir uns an den tödlichen Angriff auf das Viertel Zaytoun. In diesem Bauernviertel von Gaza-Stadt lebt die Familie Samouni, die bei dem Angriff 29 Angehörige verlor. Anjali Kamat und Jacquie Soohen besuchten die Überlebenden der Familie im März 2009.
Anjali Kamat:
Nun zu Gaza, wo an diesem Wochenende mindestens fünf Palästinenser bei israelischen Angriffen starben. Drei der Toten gehörten angeblich der Gruppe ‚Islamischer Dschihad an‘. Sie starben am Sonntagabend bei einem israelischen Luftangriff. Mindestens zwei Menschen wurden zuvor am Samstag von israelischen Soldaten erschossen – nahe der nördlichen Grenze (von Gaza). Die Angriffe erfolgten, nachdem Premierminister Netanjahu vor einem möglichen Wiederaufflammen der Raketenangriffe aus Gaza gewarnt hatte. Er sagte, in der vergangenen Woche seien 20 Raketen bzw. Mörsergranaten eingeschlagen. Auf israelischer Seite gab es keine Verletzten.
Amy Goodman:
Ebenfalls an diesem Wochenende teilte Ägypten mit, dass es keine weiteren humanitären Hilfskonvois über Ägypten nach Gaza durchlassen werde. Am Freitag wurde der britische Parlamentsabgeordnete George Galloway, der den Viva-Palestina-Hilfskonvoi geleitet und schließlich nach Gaza gebracht hatte, aus Ägypten abgeschoben. Ägypten erklärte ihn zur „persona non grata“ und verwies auf Zusammenstößen mit ägyptischen Sicherheitskräften, zu denen es in Grenznähe gekommen war.
Zudem wird Ägypten für den Beschluss kritisiert, entlang seiner Grenze zu Gaza eine unterirdische Mauer bauen zu wollen. Dadurch würde sich die Blockade gegen die 1,4 Millionen Palästinenser von Gaza weiter verschärfen. Seit mehr als zweieinhalb Jahren leben diese Menschen unter Belagerung
Anjali Kamat:
Wir erinnern uns nun an den tödlichen Angriff auf ein Viertel in Gaza, der sich vor einem Jahr ereignete. Die Samouni-Familie lebt in einem Bauernviertel von Gaza-Stadt. Sie verlor bei jenem Angriff 29 Angehörige. Im März 2009 besuchte ich die überlebenden Mitglieder der Familie:
Report vom März 2009
Anjali Kamat:
Als wir nach Zaytoun kommen, hören die Obstgärten im Südosten von Gaza-Stadt abrupt auf. Wir sind unterwegs an jenen Ort, an dem sich eines der schlimmsten Massaker des israelischen Angriffs auf Gaza vor einem Jahr abgespielt hat. Vor zwei Monaten (Anfang Januar 2009) wurde Zaytoun bombardiert. Noch immer wirkt das Bauernstädtchen wie ausgestorben: Abwasserpfützen, gebrochene Rohre, aufgewühltes Ackerland, zerstörte Hühnerställe, Häuser, die dem Erdboden gleichgemacht wurden und Schuttberge überall.
Ein junger Mann namens Fadi Samouni führt uns durch sein Viertel und zeigt, wo die Häuser seiner Verwandten gestanden haben.
Fadi Samouni (Übersetzung):
Das hier war das Haus von Fares As Samouni. Das Haus dahinter gehörte seinem Sohn, Wael As Samouni. Das war das Haus von Nafez As Samouni, daneben das von Saleh As Samouni, und daneben die Häuser von Ziyad As Samouni, Abu Khalil As Samouni, Jihad As Samouni und Hamed As Samouni. Das hier war das dreistöckige Haus von Asad Samouni und hier stand das von Azzat – auch er ein Samouni.
Anjali Kamat:
Der israelische Angriff auf Zaytoun traf die Familie Samouni besonders hart. Sie verlor bei den Luft- und Bodenoperationen (der Israelis) Anfang Januar 29 Angehörige. 21 von ihnen wurden in einem Gebäude getötet, in dem sie Schutz gesucht hatten. Tags zuvor hatten israelische Soldaten ihnen befohlen, sich in dieses Haus zu begeben. 8 weitere Angehörige starben bei separaten Vorkommnissen.
Hamed Samouni ist einer der Überlebenden. Er berichtet, wie alles begann – am Morgen des 4. Januar 2009.
Hamed Samouni (Übersetzung):
Beim erstenmal kamen sie mit Apache-Hubschraubern. Sie kamen zuerst in dieses Haus hier. Ich hörte den Lärm auf dem Dach und dachte, vielleicht ist es der Widerstand. Sie kamen durch das Dach, drangen ein, während alle schliefen. Die Israelis traten die Türen ein – mit gezogenen Waffen. Sie sagten, alle müssten die Arme hochheben. Sie durchsuchten alles und verbanden den Leuten die Augen.
Anjali Kamat:
In den darauffolgenden Stunden warfen Flugzeuge Bomben ab. Die Familien rannten, um Schutz vor den Fliegern und den Bomben über ihren Köpfen zu suchen. Sie gingen von Haus zu Haus – auf der Suche nach Sicherheit. Viele der Überlebenden berichten uns, dass die israelischen Soldaten circa 100 Zivilisten befohle hatten, sich in ein bestimmtes Haus zu begeben. Es war das Haus von Wael As Samouni. Ihre Berichte wurden durch mehrere unabhängige Untersuchungen – unter anderem durch den Goldstone-Report – bestätigt.
Die 38jährige Bäuerin Naheel Abdallah As Samouni erzählt, wie ihre Familie – nachdem sie aus ihrem eigenen Haus geflohen war -, in Waels Haus kam.
Naheel Abdallah As Samouni (Übersetzung):
Wir entkamen in das Haus unseres Nachbarn, Abu Salah As Samouni. Es war aus Beton gebaut. Wenige Sekunden, nachdem wir dort eingetroffen waren, wurden das Bombardement und die Schießereien heftiger. Die israelischen Soldaten brachten die Familien von Rashad und Ibrahim in das gleiche Haus. Wir waren nun rund 60 Personen. Alle weinten und hatten schreckliche Angst. Nach einigen Sekunden kamen die Israelis zur Tür herein und sagten, wir müssten hier raus. Sie wiesen die Männer an, ihre Hemden hochzuziehen und führten Leibesvisitationen durch. Wir hatten solche Angst; wir rannten barfuß auf die Straße und suchten Zuflucht im Haus von Wael As Samouni.
Anjali Kamat:
Auch Fadi Samouni ging in das Haus von Wael.
Fadi Samouni (Übersetzung):
Gegen 5 Uhr 30 wurde das Bombardement wieder stärker. Die ganze Nacht über waren Flugzeuge über unsere Köpfe geflogen. Ich und meine Familie wollten aus dem Haus fliehen. Als ich gerade die Tür öffnen wollte, schlugen zwei Bomben in das Haus ein. Wir flohen in das Haus von Abu Salah – möge Gott ihm gnädig sein. Nach 5 Minuten brach im 3. Stock des Hauses ein Feuer aus. Drei von uns – Ahmad, Salah und ich – schafften es hinaus. Wir entkamen und rannten zu Wael As Samounis Haus. Dort geschah das Massaker.
Anjali Kamat:
Auf dem Weg zu diesem Haus rannte Fadi einer Gruppe Bewaffneter in die Arme, die er zunächst – aufgrund ihrer Kleidung – für palästinensische Militante hielt.
Fadi Samouni (Übersetzung):
Wir stießen auf 6 (israelische) Soldaten. Zuerst hielten wir sie für Widerstandskämpfer und sagten, sie sollten von hier verschwinden. Sie richteten ihre Gewehre auf uns und befahlen uns näherzukommen. Als wir uns näherten, befahlen sie uns niederzuknien. Sie durchsuchten uns sehr gründlich und fragten, wer hier in der Gegend bei der Hamas sei und wer beim ‚Islamischen Dschihad‘. Wir sagten, wir gehörten keiner Gruppierung an. Alle hier seien Bauern oder Taxifahrer, wie sie ja sehen könnten.
Anjali Kamat:
Den Rest des Tages drängten sich Dutzende Familienmitglieder im Haus von Wael As Samouni, das noch im Bau war. Sie hatten sehr wenig Wasser und Essen. Draußen durchstreiften israelische Panzer die Straßen.
Die Bombardierung begann in aller Frühe am nächsten Morgen. Lamya Samounis Sohn Hamdi war einer der Ersten, die getötet wurden. Er war mit einigen anderen nach draußen gegangen, um Feuerholz zu suchen und um Verwandten zu helfen, die im nahen Obstgarten festsaßen.
Lamya Samouni (Übersetzung):
Einige Leute befanden sich zwischen den Bäumen. Sie wohnten in den Bäumen, hatten sich ein Zimmer in den Bäumen eingerichtet. Sie sagten: „Rettet uns. Wir wollen mit euch gehen“. Sie mussten zwei Steine wegräumen. Mein Sohn Hamdi und ein anderer junger Mann – Mohammad Ibrahim Al Samouni – begannen, diese Steine wegzuräumen, als die Bombe fiel. Sie traf Mohammad und Hamdi.
Anjali Kamat:
Dann schlug ein weiteres Geschoss ein. Das Haus von Wael As Samouni war voller Menschen, fast 100 Zivilisten. Naheel schildert den Schrecken, als das Haus erneut mit Granaten angegriffen wurde.
Naheel Abdallah As Samouni (Übersetzung):
Binnen Sekunden schlug eine weitere Bombe aus Norden kommend ein. Wir fielen alle zu Boden und schrien vor Angst. Wir hatten extreme Angst. Die Männer sagten, wer noch laufen kann, solle sofort hier raus. Aber bevor ich gehen konnte, wurde mein Mann verwundet. Er sagte: „Mein Bein ist weg“. Ich sagte: „Was meinst du mit „weg“?“ Ich nahm meinen Schleier ab und versuchte damit, die Blutung zu stillen. Aber er war sehr schwer verletzt und verlor das Bewusstsein.
Anjali Kamat:
In all dem Chaos nach der Bombardierung – Rauch und Staubwolken -, flohen die, die noch konnten, aus dem Haus. Sie glaubten, die anderen im Haus seien alle tot. Aber unter dem Schutt und den Leichen lagen noch Lebende – auch der Mann von Naheel – Nafez As Samouni – lebte noch.
Nafez As Samouni (Übersetzung):
Ich sagte zu meiner Frau: „Ich bin verletzt. Ich bin verwundet“. Sie sagte: „Was soll ich tun? Die Leute wollen hier raus“. Es waren über 100 Menschen in dem Haus, es war voller Menschen.
Anjali Kamat:
Nafez stand das Schlimmste noch bevor.
Nafez As Samouni (übersetzt):
Einige gingen und einige…. um mich herum lagen zwischen 19 und 25 Tote. Ich verbrachte die nächsten 4 Tage damit, sie zu betrachten.
Naheel Abdallah As Samouni (Übersetzung):
Mein Mann verbrachte 4 Tage unter Leichen. Wir fingen an zu schreien und zu weinen. Ich dachte, auch er sei ein Märtyrer geworden. Ich sagte allen, mein Sohn und mein Mann sind zu Märtyrern geworden.
Nafez As Samouni (Übersetzung):
Ich schwöre, dass die Köpfe der Leichen abgetrennt waren. O mein Gott.
Anjali Kamat:
Nafez As Samoudi ist noch immer traumatisiert durch die Zeit, die er, zwischen den Leichen seiner Angehörigen gefangen, verbringen musste. Viele der Toten waren Alte, Frauen und Kleinkinder. Mittlerweile erhielt der ‚Palästinensische Rote Halbmond‘ 145 Notrufe aus Zaytoun, aber die israelischen Bodentruppen ließen die Ambulanzen nicht in das Viertel hinein.
Fadi Samouni (Übersetzung):
Wenn sie die Ambulanzen gleich zu Beginn durchgelassen hätten, wäre es nicht passiert. Aber niemand war in der Lage, (auf unsere Notrufe) zu reagieren.
Anjali Kamat:
Zweieinhalb Tage später, als endlich Hilfe in das Gebiet gelassen wurde, kam sie zu Fuß. Mediziner kamen zu Fuß und schafften Nafez und eine handvoll anderer Überlebender auf Eselskarren ins Krankenhaus. Immer noch weigerten sich die israelischen Truppen, Ambulanzen bis zum Haus (von Wael) zu lassen.
21 Tote wurden zurückgelassen. Erst am 18. Januar, als der Waffenstillstand erklärt wurde, konnten die Überlebenden zurückkehren. Sie fanden die meisten ihrer Häuser sowie ihre Moschee zerstört vor. Wael As Samounis Haus stürzte nach dem Bombardement über den Toten zusammen. Hamed As Samouni erinnert sich noch an den Leichengeruch, während er versuchte, die Toten unter dem Schutt des Hauses hervorzuziehen.
Hamed Samouni (Übersetzung):
Ich war als Erster an dem Ort, wo die Bombe gefallen war. Eine kleine Grube, ein Loch, war zu sehen. Ich stieg hinein und fand sie alle. Sie lagen seit 17 Tagen unter Trümmern. Als wir versuchten, sie zu bergen, blieb die Haut ihrer Körper an unseren Händen hängen. Wir zogen ihre verwesenden Leiber mit unseren Händen heraus. All unsere Bitten um Ambulanzen für diesen Ort und für diese Aufgabe, die wir an den Roten Halbmond gerichtet hatten, liefen ins Leere.
Anjali Kamat:
Zwei Monate nach dem Massaker ist der Horror der Überlebenden noch immer frisch.
Naheel Abdallah As Samoudi (Übersetzung):
Wir können nicht vergessen, was passiert ist. Die Mädchen weinen jeden Tag. Sie erinnern sich an ihren Onkel. Es ist wie ein Traum. Wir wachten auf, und die Israelis standen über uns. Sie brachten uns von unseren Häusern weg. Bomben gingen auf uns nieder. Wir können noch immer nicht glauben, was mit uns geschehen ist.
Hamed Samouni (Übersetzung):
Wenn Sie abends um 22 Uhr an diesen Ort kommen, werden Sie Furcht empfinden, denn es ist jetzt Geisterland. 29 Menschen sind hier zu Märtyrern geworden. Wie kann man von uns nur erwarten, hierher zu kommen, hier zu schlafen, zu essen und zu trinken? Selbst Hunde leben besser als wir.
Anjali Kamat:
Wir trafen ein 8jähriges Mädchen, das mitansehen musste, wie seine Mutter bei dem Angriff auf Zaytoun starb. Sie steht neben einem Haufen aus zerstörten Gegenständen. Sie beschreibt, an was sie sich noch erinnern kann, als das Haus von Wael mit Granaten beschossen wurde.
8jähriges Mädchen (Übersetzung):
Alles brannte. Es gab keine Türen. Wir konnten nicht schlafen, hatten keine Matratzen, keine Betten, kein Essen. Alles war schwarz. Rauch drang von draußen herein und setzte sich an der Wand fest. Alle sind zu Märtyrern geworden.
Ende des Berichts.
Anjali Kamat:
Heute – mehr als ein Jahr später – stehen in dem Gebiet immer noch keine neuen Häuser.
Die Samounis leben weiter im Elend, in Behelfsunterkünften, die sie aus den Trümmern ihres früheren Lebens zusammengebastelt haben.
Hamed Samoudi (Übersetzung):
Niemand in der Welt interessiert sich für uns. Die Israelis töten uns. Am Ende geben sie und 200 Schekel oder 500. Das soll unsere Entschädigung sein – als ob es nur ums Essen und ums Trinken ginge.
Anjali Kamat:
Im Goldstone-Report steht, dass die 21 Zivilisten, die im Haus von Wael As Samoudi starben, durch israelisches Feuer getötet wurden, das bewusst gegen sie gerichtet worden sei. Zudem wirft der Report der Israelischen Armee (IDF) vor, die Evakuierung der Verletzten willkürlich verhindert zu haben und verhindert zu haben, dass verletzte Zivilisten Erste Hilfe erhalten konnten. Außerdem wirft der Bericht der Armee vor, in Zaytoun bewusst Wohnhäuser zerstört zu haben. Die offizielle Untersuchung der Israelischen Regierung zu den Todesfällen steht noch aus. Laut der Überlebenden hat Israel bislang keinen Kontakt zu ihnen aufgenommen, um sie als Zeugen zu befragen. Ein Jahr nach dem Massaker wartet die Familie Samoudi noch immer auf Gerechtigkeit.
Das war ein Report für Democracy Now! – von Anjali Kamat und Jacquie Soohen von Big Noise Films.
Amy Goodman:
Vielen Dank für diesen Bericht, Anjali.
Danke.
Amy Goodman ist Moderatorin des TV- und Radioprogramms ‚Democracy Now!‘, das aus rund 500 Stationen in Nordamerika täglich/stündlich inte
Anjali Kamat: